Naturwaldzellen
Waldökosysteme sind dynamische Systeme, die durch systeminterne und äußere Prozesse gesteuert werden. Zwischen Entstehung und Klimax Stadium durchlaufen sie mehrere Stadien. Dominieren zu Beginn schnellkeimende und bei starkem Sonnenlicht schnellwachsende Baumarten, so werden diese im Laufe der Zeit mehr und mehr von anderen, dann durchsetzungsfähigeren Arten verdrängt. Baumarten bleiben am Ende übrig und bilden das sogenannte Klimax Stadium.
Wird dieser Wald nicht durch ein katastrophales Ereignis (z.B. Feuer) großflächig vernichtet, laufen in ihm kleinräumige, mosaikartige Verjüngungszyklen ab. Der gesamte Entwicklungszeitraum kann mehrere Jahrhunderte in Anspruch nehmen. Dabei befindet sich der Klimax Wald in einem dynamischen Gleichgewicht, d.h., dass in mittleren und größeren Zeiträumen nur noch so viel Biomasse gebildet wird, wie im gleichen Zeitraum abstirbt bzw. mikrobiell umgewandelt wird. Je länger dieser Zustand dauert, umso komplexer und vielfältiger werden die Lebensgemeinschaften.
Die Vielfältigkeit der Lebensformen und Lebensgemeinschaften von Pflanzen und Tieren sind eine der grundlegenden Voraussetzungen für die Stabilität der Ökosysteme. Ihr Erhalt ist für die langfristige Sicherung des vielfältigen Nutzens, den die Wälder dem Menschen bieten, vor allem auf lokaler und regionaler Ebene von herausragender Bedeutung. Der Wald ist dabei Rückzugsfläche und Rest-Lebensraum für viele Arten, die in der boomenden Zivilisation durch den Menschen bedrängt sind. Dabei kann der Wald diese Rolle nur begrenzt wahrnehmen, da die Artenvielfalt Mitteleuropas in hohem Maße anthropogen beeinflusst wurde. Sie entstand seit dem Neolithikum Hand in Hand mit der Siedlungs- und Rodungstätigkeit des Menschen und mit der vielfältigen Form der Landschaftsnutzung. Viele Pflanzen- und Tierarten brachte der Mensch aus dem Südosten mit und prägte so entscheidend die floristische und faunistische Entwicklung des ganzen Landes über Jahrtausende hinweg.
Der weltweite Bewaldungsanteil liegt bei 31 Prozent. Darin konzentriert sich 80 Prozent der globalen terrestrischen Phytomasse. Jedes Jahr werden 13 Millionen Hektar Wald vernichtet, die einer Fläche Griechenlands entspricht. Besonders betroffen sind die tropischen Regenwälder Südamerikas, Afrikas und Asiens. So ist etwa auch 2010 bei der Konferenz im japanischen Nagoya festgelegte Ziel gefährdet, bis 2020 den Verlust der natürlichen Lebensräume zu stoppen oder die Verlustrate bis dahin mindestens zu halbieren. Die weltweiten Raten der Waldvernichtung sind zwar rückläufig aber immer noch alarmierend hoch.
Bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wies die Wissenschaft auf den zu beobachtenden und teilweise alarmierenden Rückgang der biologischen Vielfalt hin. Durch den Verlust an Arten, Genen und Lebensräumen verarmt die Natur und werden Lebensgrundlagen der Menschheit bedroht. Verloren gegangene Biodiversität lässt sich nicht wieder herstellen und ist irreversibel. Deshalb wurde das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) geschaffen und auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro beschlossen.
Vor diesem Hintergrund, verbunden mit dem auch in Deutschland besorgniserregenden Rückgang vieler Tier- und Pflanzenarten, beschloss die Bundesregierung im November 2007 die „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“ (BMU 2007).
Die Verteilung und das Erscheinungsbild der heutigen Wälder in Sachsen-Anhalt sind durch menschliche Eingriffe geprägt. In einer über Jahrhunderte andauernden Entwicklung haben stets Ansprüche der Zivilisation die Landschaft geformt. So sind die gegenwärtigen Wälder sowohl Ergebnis als auch Augenblickszustand dieser kontinuierlichen Veränderung.
Die Biodiversität in der entstandenen Kulturlandschaft ist somit vom Menschen stark beeinflusst und als Momentaufnahme des Ökosystems und der darin bestehenden Wechselwirkungen zu betrachten. Gerade Wälder weisen hier im Vergleich zu anderen flächenhaften Nutzungsarten eine relativ hohe Naturnähe auf.
Im wissenschaftlichen Kontext umfasst der Begriff „Biodiversität“ verschiedene Organisationsebenen biologischer Vielfalt: die Vielfalt der genetischen Information, die Artenvielfalt sowie die Vielfalt der Ökosysteme, insbesondere ihrer Struktur und Ausstattung.
Für die Bewirtschaftung der Wälder ist eine möglichst große biologische Vielfalt im Sinne von genetischer Vielfalt, Artenvielfalt und Vielfalt Lebensräume anzustreben. Dabei sind insbesondere eine möglichst große vertikale und horizontale Strukturvielfalt sowie eine differenzierte Altersstruktur der Waldbestände von herausragender Bedeutung und ein Kernziel im Rahmen der Waldbewirtschaftung. In den nachfolgenden Abschnitten werden Maßnahmen dargestellt, die einen unmittelbaren Bezug zur Biodiversität aufzeigen.
Eine nachhaltige Waldbewirtschaftung beinhaltet die Verwaltung und Nutzung der Wälder in einer Weise und in einem Maße, dass sie ihre biologische Vielfalt, Produktivität, Erneuerungsfähigkeit und Vitalität behalten sowie ihre Fähigkeit, jetzt und in Zukunft die relevanten ökologischen, ökonomischen und sozialen Funktionen auf lokaler, nationaler und globaler Ebene zu erfüllen und das anderen Ökosystemen kein Schaden zugefügt wird.
Artikel 1 der Konvention zur biologischen Vielfalt nennt als erste Ziele die „Erhaltung der biologischen Vielfalt“ und die „nachhaltige Nutzung ihrer Bestandsteile“. Mit der Ratifizierung dieses völkerrechtlichen Vertragswerkes hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, diese Ziele unter anderem in ihren Wäldern umzusetzen. Hier wird das Ziel der nachhaltigen Nutzung seit ca. 200 Jahren mit der Produktion des nachwachsenden Rohstoffes Holz erfüllt. Aber wie stellt sich die biologische Vielfalt in deutschen Wäldern dar?
Um diese Fragen, insbesondere in bestimmenden Waldgesellschaften zu klären, wurde das Netz der Naturwaldzellen (Naturwaldreservate) Dieser Zielsetzung sollen auch die Erkenntnisse der langfristig konzipierten Naturwaldforschung über die natürliche Entwicklung von unbewirtschaftet bleibenden Waldlebensgemeinschaften, ihrer Böden, Vegetation, Waldstruktur und Fauna im Vergleich zu bewirtschafteten Wäldern dienen.
Naturwaldzellen sind Weiserflächen einer naturnahen Walddynamik und damit sowohl für den Naturschutz als auch für die Forschung von großer Bedeutung. An die Ergebnisse der Naturwaldforschung ist u.a. der naturnahe Waldbau stark interessiert. Dabei geht es insbesondere um die standortsabhängige Konkurrenzdynamik unserer Waldbaumarten, die Lückenbildung und die Verjüngungsentwicklung, die Selbstdifferenzierung von Waldbeständen oder die Muster von Alterung, Zerfall und Totholzbildung. Dazu bedarf es allerdings eines langfristig angelegten und zielführenden Untersuchungsprogramms.
Zur Sicherung der für die Forschung und Untersuchung notwendigen Waldgesellschaften wurde im § 19 die obere Forstbehörde ermächtigt, durch Verordnung Wald zu Naturwaldzellen zu erklären. Dabei sollen Waldteile die zu Naturwaldzellen verordnet wurden, besonders naturnah sein oder in absehbarer Zeit eine Entwicklung zu einer naturnahen Struktur erwarten lassen und sich ungelenkt entwickeln.
Naturwaldzellen in Sachsen-Anhalt
Sachsen-Anhalt verfügt über vielfältige geomorphologische Strukturen, die für eine Vielzahl von Waldgesellschaften die Existenzgrundlage darstellt.
Natürliche Waldgesellschaften sind untrennbar an den jeweiligen Standort gebunden, der durch Lage, Klima und Boden charakterisiert wird. Standort und Waldgesellschaft stehen in engen und vielfältigen Wechselbeziehungen zueinander. Die Kenntnis über die Zusammensetzung dieser Waldstandorte ist eine wesentliche Voraussetzung für eine nachhaltige Waldbewirtschaftung und bestimmt den waldbaulichen Handlungsspielraum.
Waldstandorte unterliegen durch die verschiedenen Umweltbedingungen stetigen Veränderungen. Eine wissenschaftliche Auswertung von flächenbezogenen Ergebnissen der Naturwaldforschung über längere Zeiträume hinweg, lässt Rückschlüsse über Veränderungen und Zusammensetzung der jeweiligen Waldgesellschaft zu. Deshalb kommt der Vergleichbarkeit der entsprechenden Verfahren und der Kenntnis über deren Inhalt eine große Bedeutung zu.
Sachsen-Anhalt beherbergt drei größere mitteleuropäische Standortsregionen Tiefland, Hügelland und Mittelgebirge. Diese ziehen sich - streifenartig von Nordost nach Südwest angeordnet - quer durch das Land. Im Norden/Nordosten erstreckt sich das Tiefland, in der Landesmitte das Hügelland und im Südwesten das Mittelgebirge, welches durch den Harz vertreten wird. Diese intensive naturräumliche Gliederung spiegelt sich in sehr differenzierten Waldwachstumsbedingungen wieder. Die Höhenlagen reichen von 30 Meter ü. NN von der planaren Stufe bis hin zu 1.142 Meter ü. NN in der hochmontanen Stufe des Harzes. Der höchste Waldanteil liegt im Bereich der Standortregion Tiefland, der höchste Bewaldungsanteil konzentriert sich im Mittelgebirge (Harz).
Die sehr unterschiedliche Waldeinteilung ist einerseits ein Ausdruck der standörtlichen Ausstattung der Standortregionen. Andererseits basiert sie auf die zum Teil davon abhängige menschliche Bewirtschaftungsintensität und Nutzungs-form, in erster Linie als Landwirtschaft.
Um diese Verschiedenheit in der Flächenauswahl der Naturwaldzellen zu dokumentieren, wurden in repräsentativen Wuchsgebieten und Wuchsbezirken und damit in unterschiedlichen Standortsmosaiken Naturwaldzellen ausgewählt (Abb. 2) und nach § 19 WaldG LSA verordnet.